Schutzsuchende dürfen nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn sie dort die Verelendung erwartet. Warum Deutschland wohl trotzdem weiter nach Italien überstellen wird, erklärt Marcel Keienborg.
Die Rechtssache C-163/17 Jawo wurde dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim vorgelegt. Herr Jawo ist ein gambischer Staatsangehöriger, der bereits in Italien erfolglos einen Asylantrag gestellt hat. Da ihm bislang kein internationaler Schutz zuerkannt wurde, fällt er in den Anwendungsbereich der Dublin III-Verordnung (Dublin III-VO). Bei der Klärung der Frage, ob Deutschland ein Asylverfahren durchführen muss oder Jawo nach Italien überstellen kann, stellten sich zahlreiche Rechtsfragen.
In der Rechtsprechung zum Dublin-Verfahren ist anerkannt, dass die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nicht erfolgen darf, wenn die betroffene Person dort von einer Verelendung in einem solchen Ausmaß betroffen wäre, dass sie als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) anzusehen ist.
Diese Rechtsprechung ist ursprünglich für die katastrophalen Verhältnisse im griechischen Asylsystem entwickelt worden, wurde später jedoch auf andere Länder übertragen. Dabei wird bislang jedoch auf die Situation im Asylverfahren selbst abgestellt. Der VGH hingegen fragte, inwiefern es eine Rolle spielt, wenn die Betroffenen nach einer Anerkennung in dem anderen Staat eine derartige Behandlung erfahren würden. Die deutschen Verwaltungsgerichte sind in zunehmendem Maße mit Fällen befasst, in denen schutzsuchende Personen vortragen, dass ihnen nach erfolgter Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Staat dort keine Unterstützung mehr zuteil geworden sei. Sie müssen die Unterkünfte für Schutzsuchende verlassen, haben jedoch faktisch keinen Zugang zum Wohnungsmarkt in diesen anderen Ländern. Obdachlosigkeit und Verelendung sind die Folge.
In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland dominierte bisher die Auffassung, dass derartige Erwägungen im Dublin-Verfahren unbeachtlich seien. Da es um Personen gehe, die noch im Asylverfahren sind, sei eben auch auf die Verhältnisse im Asylverfahren abzustellen. Dieser Auffassung hat der EuGH am Dienstag eine klare Absage erteilt.
Fehlende Sozialleistungen sind noch keine entwürdigende Behandlung
Er macht deutlich, dass es für die Anwendung von Art. 4 der Grundrechte-Charta gleichgültig sei, ob die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung während des Asylverfahrens oder erst nach dessen Abschluss erfolgte. Alles andere sei "widersprüchlich".
Gleichwohl betonen die Richter in Luxemburg dabei sehr stark den Ausnahmecharakter dieser Konstellation. Es müsse eine besonders hohe Schwelle erreicht werden.
Dass in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erfolgen, genüge für sich genommen noch nicht, um diese besonders hohe Schwelle zu erreichen.
Vielmehr müssten Personen, die vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig sind, sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden. So sehr, dass sie ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen können, also insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden. Ihre physische oder psychische Gesundheit müsste beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt werden, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse genügen laut dem EuGH für sich genommen jedoch noch nicht, um eine in diesem Sinne eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung anzunehmen, solange sie nicht mit extremer materieller Not einhergehen.
In Italien geht es auch Italienern schlecht
Auch wenn nun feststeht, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im anderen Mitgliedstaat auch nach einer Anerkennung als schutzbedürftig eine Rolle spielt, dürfte die Entscheidung des EuGH insbesondere Überstellungen nach Italien nicht entgegen stehen.
Zwar steht Italien seit Jahren wegen seines rudimentären Systems der sozialen Sicherung in der Kritik. Dort bedarf es zur Absicherung der eigenen Existenz des familiären Rückhalts, der Schutzsuchenden in der Regel aber ja gerade nicht zugute kommt. Jedoch betreffen die Schwierigkeiten des italienischen Sozialsystems prinizipiell erst einmal alle dort lebenden Menschen, auch die Italiener selbst. Trotzdem gelingt es offenbar den meisten Menschen in Italien, irgendwie zurecht zu kommen, woraus regelmäßig gefolgert wird, dass zumindest ein so gerade noch menschenwürdiges Leben am Rande des Existenzminimums möglich sei, wenn man sich denn nur ernsthaft bemühe.
Etwas anderes, also eine prinzipielle Unmöglichkeit der Überstellung, könnte für Kinder gelten. Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass außergewöhnlichen Umständen in Fällen besonders verletzbarer Personen gesondert Rechnung zu tragen ist. In Bezug auf Italien ging es hierbei in den vergangenen Jahren insbesondere um die besonderen Bedürfnisse von Kindern (vgl. hierzu EGMR, Entscheidung v. 04.11.2014, Az. – 29217/12-, Tarakhel gegen die Schweiz).
Lebensumstände auch bei Sekundärmigration zu beachten
Auch in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 Ibrahim, C-319/17 Sharqawi u. a. und C-438/17 Magamadov, die der EuGH mit dem Verfahren Jawo verbunden hat, fragte mit dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ein weiteres deutsches Gericht nach der Auswirkung von unmenschlichen oder entwürdigenden Lebensumständen in einem anderen Mitgliedstaat. Und zwar auf Personen, die in Deutschland internationalen Schutz beantragen, obwohl ihnen bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz - konkret subsidiärer Schutz - zuerkannt worden ist. Es geht also um die Fälle, die das BVerwG auch als "Sekundärmigration" bezeichnet.
§ 29 Abs. 1 Nr. 2 des deutschen Asylgesetzes (AsylG) bestimmt bislang, dass Asylanträge stets unzulässig sind, wenn in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz, also auch subsidiärer Schutz, gewährt wurde. Die Asylanträge werden in diesen Fällen also ohne inhaltliche Prüfung stets abgelehnt. Außergewöhnlichen humanitären Härten wird nur im Einzelfall Rechnung getragen, indem humanitäre Aufenthaltserlaubnisse auf der Ebene des nationalen Rechts erteilt werden, insbesondere über § 60 Abs. 5 AufenthG.
Der EuGH hat auf die Frage des BVerwG nun festgestellt, dass das Unionsrecht es verbietet, einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn erwiesen ist, dass der im anderen Mitgliedstaat subsidiär Schutzberechtigte sich dort unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Die Asylanträge werden in diesen Fällen also ohne inhaltliche Prüfung stets abgelehnt. Außergewöhnlichen humanitären Härten wird im Einzelfall Rechnung getragen, indem humanitäre Aufenthaltserlaubnisse auf der Ebene des nationalen Rechts erteilt werden, insbesondere über § 60 Abs. 5 AufenthG.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung der Entscheidung des EuGH stellt sich indes die Frage, ob § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG überhaupt noch europarechtskonform ist; zumindest wird europarechtlich zukünftig eine einschränkende Auslegung dieser Vorschrift erforderlich sein. In Fällen, in denen den Betroffenen eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung droht, werden Behörden und Gerichte sich nicht mehr ohne Weiteres auf diese Vorschrift zurückziehen können.
Flüchtig kann auch sein, wer nur kurz weg ist
Ausführungen haben die Richter in Luxemburg im Fall Jawo auch zur Frage gemacht, wann ein Antragsteller "flüchtig" ist. Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-VO sieht vor, dass, wenn ein Schutzsuchender in den für sein Asylverfahren zuständigen Staat überstellt werden soll, diese Überstellung in der Regel innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt erfolgen muss, in dem die Übernahmebereitschaft des anderen Staates feststeht. Wird diese Überstellungsfrist nicht eingehalten, geht die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, das wäre hier Deutschland. Damit müsste Deutschland das Asylverfahren selbst durchführen, eine Überstellung Jawos käme dann nicht mehr in Betracht. Diese Überstellungsfrist kann allerdings auf verschiedene Weisen unterbrochen oder verlängert werden, u. a. auf 18 Monate, wenn die Person "flüchtig" ist.
Auf Anfrage des VGH urteilte der EuGH, "dass ein Antragsteller flüchtig ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln". Dies könne, so die Richter in Luxemburg, angenommen werden, "wenn der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde[...]."
Der Generalanwalt hat in seinem Schlussantrag noch "einen längeren Zeitraum" verlangt. Im Urteil des EuGH findet sich diese Formulierung nicht. Flüchtig kann also potenziell auch sein, wer bloß kurzfristig abwesend ist. Allerdings stellt der EuGH ebenso wie der Generalanwalt darauf ab, dass die zuständigen Behörden nicht über die Abwesenheit informiert waren. Dieser Aspekt könnte insbesondere für die Fälle des sog. offenen Kirchenasyls relevant sein. In diesen Fällen werden die zuständigen Behörden unmittelbar nach Beginn des Kirchenasyls über den Aufenthaltsort der Personen informiert, dann läge keine Flucht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO vor.
Schließlich hat der EuGH entschieden, dass die Verlängerung der Überstellungsfrist schon dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat sie dem anderen Staat anzeigt und dabei das neue Ende der Überstellungsfrist mitteilt. Ein Einverständnis des anderen Staates ist also nicht erforderlich.
Der Autor Marcel Keienborg ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Uni Düsseldorf. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist das Migrationsrecht.